Dirk Hoeges, Eine Reise an den Ufern von Lethe und Mnemosyne

„Wie kann man als Mann Romanistik studieren?“ Mehr erstaunt als fragend sah mich meine Kommilitonin an, mit der ich Jura an der Universität zu Köln studierte. Wir saßen beim mittäglichen Plausch in der Mensa, als ich sie mit meinem Entschluss überraschte. Sie hatte offenbar eine klare Vorstellung , von einem Mann und von der Romanistik. Ich schien in ihren Augen, ein „je ne sais quoi“, verloren zu haben.
Annähernd vier Jahre nach Beginn des Studiums der Germanistik, Geschichte und Philosophie im Frühjahr 1964 war ich nach mehreren Wechseln offenbar reif für die Romanistik…“

in:
Klaus-Dieter Ertler (Hg.)
> Romanistik als Passion
Sternstunden der neueren Fachgeschichte III, S. 129-147.
Reihe: Fachgeschichte: Romanistik
Bd. 4, 2014, 464 S., 54.90 EUR, 54.90 CHF, br., ISBN 978-3-643-50622-1

„Giordano Bruno“. Ein Dunkelmann bei Wikipedia

Nachbetrachtung:

Die Theodor Heuss-Stiftung, im Vorstand besetzt mit einem Familienmitglied, Ludwig Theodor Heuss als Vorsitzendem, des Weiteren, wie auch das Kuratorium, mit Politikerinnen im Ruhestand, wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Frau Jutta Limbach, machen sich um die politische Ahnenhege so verdient wie u.a. die Herren Cem Özdemir und Wilfried Kretschmann. Sie alle schweigen zu öffentlicher Kritik und verleihen weiter Preise für Verdienste um die Menschenrechte. Im Namen von Theodor Heuss. Dunkel bleibt, wo die Gründe liegen.

Wikipedia, ein Medium für Wissen und Aufklärung und damit einer freiheitlichen europäischen Tradition verpflichtet, übt Zensur. Dafür verantwortlich ein Mitarbeiter, der unter dem Pseudonym „Giordano Bruno“ auftritt. Anmaßung eines Dunkelmanns, der den Namen einer Lichtgestalt, eines offenen, unerschrockenen Vorkämpfers der Freiheit des Menschen usurpiert. Dieser Herr interveniert in die Verbreitung des vorliegenden Buches durch ständig wiederholte Streichungen aus der Heuss-Bibliographie in Wikipedia. Ohne Buch- und Sachkenntnis, übt er Zensur und missbraucht Wikipedia wie den Namen Giordano Bruno. Der Zensor als Held einer Anonymität, die Öffentlichkeit fürchtet, zum Schaden aller. So bleibt dunkel, wo die Gründe liegen. Fazit: Dunkel gesellt sich zu Dunkel.

Diese Fakten begleiteten das inzwischen vergriffene Buch, welches nun in zweiter, verbesserter und erweiterter Auflage erscheint.

Dirk Hoeges, Köln im Juni 2016

Sonderwege deutscher Historiker

Auszug aus Dirk Hoeges, Die Menschenrechte und ihre Feinde. Deutsche Profile zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik.Thomas Mann· Ernst Jünger· Martin Heidegger · Gottfried Benn · Carl Schmitt· Rudolf Borchardt· Stefan George · Rainer Maria Rilke· Alfred Toepfer· Neue Gefahren,
Köln, machiavelli edition, 2. Auflage 2013, S. 110-112:

Die Blockade der Moderne. Deutsche Sonderwege oder im Westen nichts Neues? Baudelaire George Rilke

Literarische Entzivilisierung: Die Frage eines deutschen Sonderwegs stellt sich nicht nur angesichts des deutschen Umgangs mit den Proklamationen der Menschen- und Bürgerrechte des 18. Jahrhunderts. Ihren Setzungen hatte sich die erste deutsche Demokratie in ihrer Verfassung von 1919 entzogen. Die „Väter“ der Verfassung von Weimar ignorieren die Manifestationen der Moderne, sie ignorieren mit dem „citoyen“ den neuen Weltbürger, das neue universale Subjekt. Was mit der Niederlage von 1918 und dem Diktat von Versailles in Deutschland einsetzt, ist ein Kampf auf vielen Ebenen, der im Namen des „Deutschtums“ und seiner Verletzungen, von der Frage, was ist deutsch und anderen suggestiven Selbstbehauptungsbegriffen beherrscht wird. Das geschlagene Deutschland sieht sich alten und neuen Internationalismen gegenüber, vom Sow­jetkommunismus bis zu Allianzen, die mit Frankreich und den USA formal auf den Menschen- und Bürgerrechten gründen, auf Manifestationen revolutionärer Herkunft aus dem Jahrhundert der Aufklärung, denen sich Deutschland im Gestus der Selbstbehauptung verweigert. Im Zuge dieser Verweigerung ergibt sich die absurde Situation, dass Deutschland seinen erheblichen Beitrag zur europäischen Aufklärung vergisst und seine geglaubte nationale Identität und Herkunft vornehmlich aus den napoleonischen Kriegen und der Romantik bezieht, die kurzschlüssig, wie auch in anderen Ländern, mit dem Mittelalter verbunden werden. Eine folgenreiche Epochenselektion.
Die nationale Identitätssuche und ihre Beglaubigung hatten sich schon auf dem Weg zur Reichsgründung 1871 als neuralgische Punkte erwiesen. Verstärkt durch die säkulare Erfahrung mit Frankreich führen diese kollektiven Unsicherheiten besonders in den bürgerlich-aristokratischen Führungsschichten zu Abwehrhaltungen und Aggressionen, die bedrohliche Formen annehmen. Die Niederlage von 1918 verstärkt Dispositionen und Feindbilder, die zur Selbstbestimmung beitrugen. Zu ihnen gehört der Antisemitismus.
Entgegen der bekannten und nicht differenziert ausdiskutierten Sonderweg­debatte, wird hier die Weimarer Verfassung im Hinblick auf die Menschen- und Bürgerrechte als Dokument eines Sonderwegs bezeichnet, den die erste deutsche Republik des 20. Jahrhunderts einschlägt. Er ist nicht der Einzige.
Die Frage eines deutschen Sonderwegs, einer Abwendung Deutschlands vom Westen, von den westlichen Staatsformen und ihren Gesellschaftskulturen seit der Reichsgründung ist bis heute auf den Komplex der politischen Geschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eingeschlossen, konzentriert. Dieser Komplex ist nicht autonom. Er enthält vielfältige Ursachen, Einflüsse und Reflexe. Sie sind zu klären und einzubeziehen, wenn von deutscher Geschichte zwischen Kaiserreich und Republik angemessen die Rede sein soll.
Zur Klärung beitragen können Sichtung und Analyse des deutschen Umgangs mit ästhetischen, mit literarischen und künstlerischen Entwicklungen und Innovationen, wie sie sich in der französischen Dichtung und Kunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen. Was von französischer Literatur und Kultur wurde in Deutschland rezipiert und wie wurde es vermittelt? Dieses Sichtungsverfahren ist aufschlussreich, denn mit „Westen“ ist neben England besonders Frankreich gemeint und damit nicht zuletzt die Französische Revolution und ihre mannigfachen Folgen.
Das Verhältnis zu Frankreich gehört zu den zentralen Komplexen deutscher Iden­titätsgeschichte zwischen 1789 und 1945. Literatur eröffnet neue Zugänge zur Sonderweg-Thematik und ermöglicht neue Einsichten zum deutschen Selbstverständnis und seinen Identitätsstrategien, die das politische Bewusstsein nachhaltig beeinflussten. Literatur, Kunst und Ästhetik der Moderne, des „Westens“ wie auch Deutschlands, bleiben in der bekannten, von Historikern geführten Diskussion über einen deutschen Sonderweg weitgehend unberücksichtigt. Sie sind der weiße Fleck in der einschlägigen deutschen Geschichtswissenschaft. Sie ist auf das Thema „Deutschland und die westliche Demokratie“ fokussiert. Die Kompetenz der Literaturwissenschaft zur Ermittlung der Komplexität deutschen Selbstverständnisses erscheint unverzichtbar.
Die Ausblendung von Literatur und Kunst wirft Fragen auf, insonders nach den kursierenden Begriffen von „deutscher Geschichte“ und „Gesellschafts­geschichte“. Literatur, Kunst, Kultur scheinen nicht dazuzugehören und wenn, wird Deutschland als autarke intellektuelle Binnenzone präsentiert, von Europa, von Frankreich, Italien, England, von Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Futurismus u.a. ist wenig bis nichts zu sehen. Auch über die Weimarer Literatur und Kultur ist eher in englischen oder angloamerikanischen Gesamt-Darstellungen der „Deutschen Geschichte“ zu lesen als in deutschen. So mündet die Frage nach einem Sonderweg in die Frage nach einem Sonderweg der deutschen Geschichtswissenschaft, die einer restriktiven Projektion des „Politischen“ und „Gesellschaftlichen“ folgt, welche die Komplexität des Themas in Teilen tilgt. Den Repräsentanten dieses Geschichtsbegriffs mag Diderot empfohlen sein: Elargissez votre Dieu; erweitern Sie Ihren Horizont ist eine profane Übersetzungsmöglichkeit dieser aufklärerischen Empfehlung. Was Kunst und Literatur, ihre Funktionen und Möglichkeiten angeht, zeigen ein Fall und seine Folgen, der das Verhältnis Deutschland/Frankreich intensiv beleuchtet. Es geht um die Baudelaire-Rezeption in Deutschland, wie sie sich in den Umdichtungen und Übersetzungen Stefan Georges und Rainer Maria Rilkes von Charles Baudelaires Die Blumen des Bösen (Les Fleurs du mal) darstellt. Baudelaire steht mit Rimbaud, Verlaine, Mallarmé für eine literarästhetische Moderne, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Dichtung von Frankreich ihren Ausgang nimmt. Die Namen George und Rilke repräsentieren mehr als sich selbst und mehr als epochale Dichtung. Beide spielen für das Personal der „Deutschen Geschichte“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre bei Akteuren und Zuschauern, bei Protagonisten, Komparsen und Parallelgesellschaften unterschiedlicher Herkunft und Zusammensetzung eine bedeutende Rolle, folglich auch die von beiden vermittelte Sicht auf Frankreich und die französisch geprägte poetische und poetologische Moderne.

Auszug aus Dirk Hoeges, Die Menschenrechte und ihre Feinde
Deutsche Profile zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik.
Thomas Mann· Ernst Jünger· Martin Heidegger · Gottfried Benn · Carl Schmitt· Rudolf Borchardt· Stefan George · Rainer Maria Rilke· Alfred Toepfer· Neue Gefahren, Köln,  machiavelli edition, 2. Auflage 2013, S. 110-112.

Nachtrag: Angela Merkel – Bundeskanzlerin

Im Jahr 2005 beschlossen CDU und SPD eine große Koalition einzugehen und das CDU- Mitglied Angela Merkel zur Bundeskanzlerin zu machen. Beide Parteien konnten auf eine über fünfzigjährige bundesrepublikanische Demokratiegeschichte zurückblicken, an der sie seit der Zeit des Parlamentarischen Rates grundlegenden Anteil hatten.

Es war eine schwere Aufgabe, die demokratische Nachfolge des totalitären nationalsozialistischen Staates anzutreten. Wie schwer sie für die parlamentarische Demokratie war, wie schwer sie Gesellschaft und Politik fiel, zeigten die folgenden Jahrzehnte.

Die Arbeit an der Demokratie hatte auf verseuchtem Boden begonnen und wie tief dieser Boden kontaminiert war, zeigten besonders die Altlasten des Nationalsozialismus, dessen Repräsentanten und Träger lange auf allen Ebenen zur Elite der Bundesrepublik gehörten und sie in Glaubwürdigkeitskrisen führten.

Das lag auch daran, dass viele der alten Akteure im neuen Staat ihre Biographien auf die neuen Verhältnisse und ihre Erfordernisse und Wünschbarkeiten zugeschnitten hatten. Löschen, lügen und verschleiern waren gefragte Fähigkeiten. Die einen platzierten zwölf Jahre ihrer Biographie in scheinbar unpolitisches Niemandsland, die anderen unterschlugen sie. Das einzige, was sich nicht leugnen ließ war, dass sie gelebt hatten. Ansonsten hatten sie nichts gesehen, nichts gehört, nichts getan und nur wenig gesagt. Ihre Legitimationserzählungen und politischen Zero-Biographien gaben vor, in den zwölf Jahren des Nationalsozialismus unbeteiligt und unbehelligt eine Karriere angestrebt und absolviert zu haben. Ein veritables Kunststück im totalitären Staat, der gemeinhin von der Wiege bis zur Bahre niemanden vergisst und jeden erreicht.

Der Nationalsozialismus schien ohne Menschen ausgekommen zu sein. Zumindest ohne jene, die nach 1945 unverzüglich politisch, wirtschaftlich, künstlerisch wieder mitspielen wollten. Bereinigte Lebensläufe hatten folglich über Jahrzehnte Konjunktur und wenn sich Verstrickungen und Kooperationen nicht tilgen ließen, blieb immer noch die „innere Emigration“. Dieses Paradies für Optionen aller Art gab vor, wenn nicht unerreichbar, so doch unberührbar für den Totalitarismus und seine Forderungen geblieben zu sein. Die „innere Emigration“ machte glauben, man habe im Terror leben können ohne Teil des Terrors zu sein. Das Innere und Innerliche war und ist seit jeher ein deutscher Wallfahrts- und Wahrheitsort von besonderer Suggestionskraft und Autorität. Ihm korrespondiert das Eigentliche, das seinerseits von höchster Moralität umflort ist.

Biographische Transparenz war angesichts der Vergangenheit ein besonders hohes und sensibles Gut auf dem langen Weg zu einer repräsentativen Demokratie. Zu Recht. Das demokratische Gemeinwesen erfordert kompromisslos Klarheit und Überprüfbarkeit der Biographien seiner Repräsentanten. Es steht und fällt mit ihrer Glaubwürdigkeit.

Biographische Transparenz ist Basis und Ausweis demokratischer Legitimation sowie ein Grundrecht der demokratischen Öffentlichkeit. Glaubwürdigkeit war und blieb der Maßstab für Wählbarkeit im neuen posttotalitären Staat 1949. CDU und SPD erfüllten mit ihren Spitzenkandidaten Adenauer und Schumacher dieses unabdingbare Erfordernis. Später stellten sich Eintrübungen ein, wie im Fall des CDU-Kanzlers Kiesinger, der einer großen Koalition von CDU und SPD vorstand. Die Koalitionäre hatten nicht genau hingesehen oder hinsehen wollen, wie der CDU-Kanzler seine Karriere während des „Dritten Reiches“ der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit präsentierte. Das Amt nahm Schaden und mit ihm die demokratische Kultur, deren Weiterentwicklung unvermindert auf der Agenda des neuen Staates stand.

Die Schwierigkeiten, eine klare und verlässliche demokratische Identität durch ihre Repräsentanten zu gewinnen und zu bewahren, schwanden über die Jahre auf natürlichem Wege. Der Christdemokrat Helmut Kohl und der Sozialdemokrat Gerhard Schröder waren die ersten deutschen Bundeskanzler, die biographisch nicht mehr mit dem Nationalsozialismus zu verbinden waren. Wo keine Verstrickung möglich war, gab es nichts zu fragen und nichts zu belegen.

War Wachsamkeit mit Blick auf biographische Verbindung mit dem nationalsozialistischen Terrorstaat nun nicht mehr vonnöten, verdämmerte sie fortan bis in den Tiefschlaf, wenn nicht im Vergessen.

Was politische, was öffentliche Ämter in der Bundesrepublik Deutschland anging, stellten sich mit der Wiedervereinigung 1990 schlagartig die alten Fragen nach der Glaubwürdigkeit jener Bewerber ein, die aus dem sozialistischen Terrorstaat der Deutschen Demokratischen Republik kamen. Er hatte den Menschenrechten nicht zuletzt mit den Mitteln der Anonymität vierzig Jahre massiv zugesetzt.

Das Spiel begann von neuem. Bürger des Terrorstaates drängten in demokratische Ämter. Sie machten allerlei geltend, teils zu Recht, teils zu Unrecht. Auch löschen, lügen, verschleiern u.a.m. hatte erneut Konjunktur. Ein déja vu in deutscher Geschichte. Die Biographie der Bewerber hatte im politisch-sozialen Kontext eines totalitären Staates begonnen, folglich waren sie zu befragen wie sechzig Jahre zuvor die Abkömmlinge des NS-Staates mit ihrer Ambition auf öffentliche Ämter in einer demokratischen Gesellschaft. So auch Angela Merkel.

Wo sie nicht befragt wurden, hatten sie aus freien Stücken für die Transparenz ihrer Lebensläufe zu sorgen. Vorausgesetzt, sie verstanden das Wesen der repräsentativen Demokratie; wenn nicht, hätte sich jede politische Tätigkeit erledigen und eine Lehrzeit einsetzen müssen.

Die demokratische Öffentlichkeit aber, deren erste Pflicht die politische Wachsamkeit ist, schien vor der neuen persönlichen Konfrontation mit einem Terrorstaat nicht erwachen zu wollen oder von Desinteresse befallen, was politisch auf das gleiche hinausläuft. Den Seinen gibt´s der Herr im Schlaf und so meint jeder Schlafende, dass er zu den Seinen gehört, befand einst Hegel. Nicht zu den seinen, zu den ihren gehören seit 2005 alle Schlafenden, die das politische Leben in der Bundesrepublik Deutschland an die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen des Amtes delegiert oder weitergereicht haben.

Eine schläfrige Öffentlichkeit stellt kaum Fragen an politische Biographien, was im konkreten Fall allen Beteiligten zum Schaden gerät. Und doch: Auch wenn der Wähler und Bürger sein Recht auf Auskunft und Transparenz nicht wahrnimmt, besteht für den politischen Repräsentanten die Pflicht, seine politische Biographie lückenlos öffentlich zu machen.

Wird die amtierende Bundeskanzlerin präzise nach ihrem politischen Lebenslauf in der DDR gefragt, bevorzugt sie die treuherzige Rede. Bleibt festzuhalten, dass ihre bereinigte politische Biographie im Internet und anderenorts dem Modell der Lebensläufe ehemaliger nationalsozialistischer Funktionäre und Parteigänger gleicht. Sie scheint ihre vordemokratischen Aktivitäten für nicht erwähnenswert oder nicht wichtig zu halten.

Dass darüber nicht die Politikerin, sondern die Öffentlichkeit zu entscheiden hat, scheint dem Demokratieverständnis der Kanzlerin verschlossen. Ihre obskure Biographie weckt Skepsis und Misstrauen. Inzwischen wurden Änderungen am Internet-Bild der Angela Merkel vorgenommen. Nebel blieb, Fragen blieben, Transparenz blieb aus.

„Zwölf Jahre im Dienst der Akademie der Wissenschaften“. Das sagt nichts über politische Aktivitäten und nichts über wissenschaftliche. Die Unklarheit ist beabsichtigt, sie verschleiert, sie täuscht die Öffentlichkeit, insofern sie jedwede politisch-gesellschaftliche Aktivität im sozialistischen Terrorstaat bis 1989/90 unterschlägt. Dreissig Jahre angeblich unpolitisch, keine Funktion, kein Amt, keine Tätigkeit, um ab 1989 schlagartig im Demokratisierungsprozess aufzutauchen. Die Selbstauskunft Frau Merkels als Mitglied des deutschen Bundestages zeigt exakt das gleiche Muster wie ihre Internet- Inszenierung „Mein Weg“.

Eine lange akademische Inkubationszeit bis zur Promotion hat Gründe. War das Studium derart zeitraubend, dass nichts für den DDR-Staat zu tun blieb? Oder verhält es sich so, dass die lange Dauer durch politisch-gesellschaftliche Aktivitäten bedingt war. Dazu konnte die Tätigkeit als FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda gehören. AgitProp hatte ihren Erzfeind in der kapitalistischen Bundesrepublik und ihrer Demokratie und erfüllte eine wichtige Rolle in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik. Sie setzte in sowjetisch-kommunistischer Manier die Menschenrechte liberal-demokratischer Provenienz auf allen Ebenen unter Dauerbeschuss. Agitation und Propaganda waren im Kommunismus und Nationalsozialismus Kernbereiche des Kampfes gegen die westlichen liberalen Demokratien. Das Personal musste kompromisslos staatsloyal sein. Hinzukamen im Fall Merkel Privilegien im Terrorstaat. Im Unterschied zu anderen Abkömmlingen aus staatstragenden protestantischen Pfarrhäusern durfte sie studieren, sie durfte reisen, nach Moskau und in den Westen. Privilegien, Kommoditäten ohne Vorleistung, das Vertrauen des Überwachungsstaates ohne kontrollierte Gegenleistung? Wer Fragen abtut, wer verschweigt, will Spuren tilgen und provoziert die Frage nach dem Warum.

Spuren aber bleiben. Dazu gehört, unüberhörbar, eine Funktionärssprache, die sich nicht tilgen lassen will. Dazu gehört: Die dreiste Gleichgültigkeit angesichts biographischer Fakes, zu denen getürkte akademische Qualifikationen eines ihrer Minister gehören. Sie belegt, wie ihr eigener Fall, die Geringschätzung des öffentlichen Anspruchs auf Aufklärung und Glaubwürdigkeit. Dazu gehört ihre politische Rede von der „Alternativlosigkeit.“ Alternativlos gerieren sich Diktaturen, totalitäre Regime; hingegen gehört die Alternative zum Wesen der Demokratie und des deliberativen Prozesses. Alternativlos gibt sich, wer sich aus Entscheidungssituationen davonstehlen und Verantwortung ablehnen will. Der Begriff bildet einen Fremdkörper in der Demokratie. Er ist nicht nur demokratiefeindlich, er ist zudem eo ipso geistfeindlich.

Durch Agitation und Propaganda artikuliert sich aggressiv das Selbstverständnis des totalitären Staates in denunziatorischer Absicht gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat. Dessen Grundfesten bilden die Menschenrechte zur Wahrung der menschlichen Würde. Ihr Zentrum bildet die Freiheit. Sie ist der Hauptfeind des Totalitarismus.

Die Arbeit an der Demokratie war identisch mit der Inkraftsetzung der Menschenrechte im neuen deutschen Staat der Bundesrepublik. Seine Vorgängerin, die Weimarer Republik, hatte sich mit ihnen von Beginn an schwergetan. Der nationalsozialistische Staat suchte ihnen vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 den finalen Garaus zu machen. Vernichten konnte er sie nicht.

Gleichwohl gilt: Der Terrorstaat der DDR setzte den Kampf gegen die Menschenrechte 1949 über vierzig Jahre mit allen Mitteln des Totalitarimus fort. Mord und Repression jeder Art eingeschlossen. Wer in diesem Staat politisch tätig war und nach der Wiedervereinigung Amt und Würden auf der Basis des Grundgesetzes anstrebt und Glaubwürdigkeit beansprucht, hat sich vor der demokratischen Öffentlichkeit durch eine Biographie von restloser politischer Transparenz auszuweisen.

Das ist bei der amtierenden Bundeskanzlerin nicht der Fall. Es ist seit fast vierzig Jahren das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass das Amt von einer Person geführt wird, die ihre vollständige politische Biographie aktiv verweigert. Sie beginnt nicht wie von ihr vorgegeben 1989/90.

Bürger, die auf ihren Anspruch und ihr Recht auf biographisch-politische Glaubwürdigkeit ihrer demokratischen Repräsentanten verzichten, geben sich selbst auf. Vielleicht ergänzen sich Täuschung und staatsbürgerliches Desinteresse. Für den Fall gilt, dass die Demokratie einer weiteren Gefahr ausgesetzt ist.