Sonderwege deutscher Historiker

Auszug aus Dirk Hoeges, Die Menschenrechte und ihre Feinde. Deutsche Profile zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik.Thomas Mann· Ernst Jünger· Martin Heidegger · Gottfried Benn · Carl Schmitt· Rudolf Borchardt· Stefan George · Rainer Maria Rilke· Alfred Toepfer· Neue Gefahren,
Köln, machiavelli edition, 2. Auflage 2013, S. 110-112:

Die Blockade der Moderne. Deutsche Sonderwege oder im Westen nichts Neues? Baudelaire George Rilke

Literarische Entzivilisierung: Die Frage eines deutschen Sonderwegs stellt sich nicht nur angesichts des deutschen Umgangs mit den Proklamationen der Menschen- und Bürgerrechte des 18. Jahrhunderts. Ihren Setzungen hatte sich die erste deutsche Demokratie in ihrer Verfassung von 1919 entzogen. Die „Väter“ der Verfassung von Weimar ignorieren die Manifestationen der Moderne, sie ignorieren mit dem „citoyen“ den neuen Weltbürger, das neue universale Subjekt. Was mit der Niederlage von 1918 und dem Diktat von Versailles in Deutschland einsetzt, ist ein Kampf auf vielen Ebenen, der im Namen des „Deutschtums“ und seiner Verletzungen, von der Frage, was ist deutsch und anderen suggestiven Selbstbehauptungsbegriffen beherrscht wird. Das geschlagene Deutschland sieht sich alten und neuen Internationalismen gegenüber, vom Sow­jetkommunismus bis zu Allianzen, die mit Frankreich und den USA formal auf den Menschen- und Bürgerrechten gründen, auf Manifestationen revolutionärer Herkunft aus dem Jahrhundert der Aufklärung, denen sich Deutschland im Gestus der Selbstbehauptung verweigert. Im Zuge dieser Verweigerung ergibt sich die absurde Situation, dass Deutschland seinen erheblichen Beitrag zur europäischen Aufklärung vergisst und seine geglaubte nationale Identität und Herkunft vornehmlich aus den napoleonischen Kriegen und der Romantik bezieht, die kurzschlüssig, wie auch in anderen Ländern, mit dem Mittelalter verbunden werden. Eine folgenreiche Epochenselektion.
Die nationale Identitätssuche und ihre Beglaubigung hatten sich schon auf dem Weg zur Reichsgründung 1871 als neuralgische Punkte erwiesen. Verstärkt durch die säkulare Erfahrung mit Frankreich führen diese kollektiven Unsicherheiten besonders in den bürgerlich-aristokratischen Führungsschichten zu Abwehrhaltungen und Aggressionen, die bedrohliche Formen annehmen. Die Niederlage von 1918 verstärkt Dispositionen und Feindbilder, die zur Selbstbestimmung beitrugen. Zu ihnen gehört der Antisemitismus.
Entgegen der bekannten und nicht differenziert ausdiskutierten Sonderweg­debatte, wird hier die Weimarer Verfassung im Hinblick auf die Menschen- und Bürgerrechte als Dokument eines Sonderwegs bezeichnet, den die erste deutsche Republik des 20. Jahrhunderts einschlägt. Er ist nicht der Einzige.
Die Frage eines deutschen Sonderwegs, einer Abwendung Deutschlands vom Westen, von den westlichen Staatsformen und ihren Gesellschaftskulturen seit der Reichsgründung ist bis heute auf den Komplex der politischen Geschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eingeschlossen, konzentriert. Dieser Komplex ist nicht autonom. Er enthält vielfältige Ursachen, Einflüsse und Reflexe. Sie sind zu klären und einzubeziehen, wenn von deutscher Geschichte zwischen Kaiserreich und Republik angemessen die Rede sein soll.
Zur Klärung beitragen können Sichtung und Analyse des deutschen Umgangs mit ästhetischen, mit literarischen und künstlerischen Entwicklungen und Innovationen, wie sie sich in der französischen Dichtung und Kunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen. Was von französischer Literatur und Kultur wurde in Deutschland rezipiert und wie wurde es vermittelt? Dieses Sichtungsverfahren ist aufschlussreich, denn mit „Westen“ ist neben England besonders Frankreich gemeint und damit nicht zuletzt die Französische Revolution und ihre mannigfachen Folgen.
Das Verhältnis zu Frankreich gehört zu den zentralen Komplexen deutscher Iden­titätsgeschichte zwischen 1789 und 1945. Literatur eröffnet neue Zugänge zur Sonderweg-Thematik und ermöglicht neue Einsichten zum deutschen Selbstverständnis und seinen Identitätsstrategien, die das politische Bewusstsein nachhaltig beeinflussten. Literatur, Kunst und Ästhetik der Moderne, des „Westens“ wie auch Deutschlands, bleiben in der bekannten, von Historikern geführten Diskussion über einen deutschen Sonderweg weitgehend unberücksichtigt. Sie sind der weiße Fleck in der einschlägigen deutschen Geschichtswissenschaft. Sie ist auf das Thema „Deutschland und die westliche Demokratie“ fokussiert. Die Kompetenz der Literaturwissenschaft zur Ermittlung der Komplexität deutschen Selbstverständnisses erscheint unverzichtbar.
Die Ausblendung von Literatur und Kunst wirft Fragen auf, insonders nach den kursierenden Begriffen von „deutscher Geschichte“ und „Gesellschafts­geschichte“. Literatur, Kunst, Kultur scheinen nicht dazuzugehören und wenn, wird Deutschland als autarke intellektuelle Binnenzone präsentiert, von Europa, von Frankreich, Italien, England, von Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Futurismus u.a. ist wenig bis nichts zu sehen. Auch über die Weimarer Literatur und Kultur ist eher in englischen oder angloamerikanischen Gesamt-Darstellungen der „Deutschen Geschichte“ zu lesen als in deutschen. So mündet die Frage nach einem Sonderweg in die Frage nach einem Sonderweg der deutschen Geschichtswissenschaft, die einer restriktiven Projektion des „Politischen“ und „Gesellschaftlichen“ folgt, welche die Komplexität des Themas in Teilen tilgt. Den Repräsentanten dieses Geschichtsbegriffs mag Diderot empfohlen sein: Elargissez votre Dieu; erweitern Sie Ihren Horizont ist eine profane Übersetzungsmöglichkeit dieser aufklärerischen Empfehlung. Was Kunst und Literatur, ihre Funktionen und Möglichkeiten angeht, zeigen ein Fall und seine Folgen, der das Verhältnis Deutschland/Frankreich intensiv beleuchtet. Es geht um die Baudelaire-Rezeption in Deutschland, wie sie sich in den Umdichtungen und Übersetzungen Stefan Georges und Rainer Maria Rilkes von Charles Baudelaires Die Blumen des Bösen (Les Fleurs du mal) darstellt. Baudelaire steht mit Rimbaud, Verlaine, Mallarmé für eine literarästhetische Moderne, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Dichtung von Frankreich ihren Ausgang nimmt. Die Namen George und Rilke repräsentieren mehr als sich selbst und mehr als epochale Dichtung. Beide spielen für das Personal der „Deutschen Geschichte“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre bei Akteuren und Zuschauern, bei Protagonisten, Komparsen und Parallelgesellschaften unterschiedlicher Herkunft und Zusammensetzung eine bedeutende Rolle, folglich auch die von beiden vermittelte Sicht auf Frankreich und die französisch geprägte poetische und poetologische Moderne.

Auszug aus Dirk Hoeges, Die Menschenrechte und ihre Feinde
Deutsche Profile zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik.
Thomas Mann· Ernst Jünger· Martin Heidegger · Gottfried Benn · Carl Schmitt· Rudolf Borchardt· Stefan George · Rainer Maria Rilke· Alfred Toepfer· Neue Gefahren, Köln,  machiavelli edition, 2. Auflage 2013, S. 110-112.